…eine Analyse seines Daseins
Gott schuf Adam, Eva – und den Brett’ler, eine ganz eigene Spezies. Der Brett’ler ist triebgesteuert – er hat nämlich den Antrieb, sich bei jeder Gelegenheit ins Rampenlicht zu stellen. Dabei will er das doch eigentlich gar nicht!
Ist das Frühjahrsstück vorbei geht im Leben eines Brett’lers alles wieder seinen geordneten Gang – nein, eigentlich fällt er in ein schwarzes Loch: Was fängt man nur mit seiner wieder neu gewonnen Freizeit an? Hat man sich wieder an die Gesellschaft seiner Familie und Freunde gewöhnt? In der Probenzeit kennt man sie eigentlich nur noch vom Foto her. Steht dann der Herbst vor der Tür, ist der Brett’ler wieder voll auf Entzug. Das ganze Drama, das schlimme Lampenfieber ist völlig vergessen. Kribbeln, ja fast schon nervöse Zuckungen machen sich bemerkbar bei den Gedanken ans Brett´l. Alles dreht sich nur noch um die eine Frage: „Mei, ob ich wohl mitspielen darf?“ Schier psychotisch nimmt man Kontakt zu seinen Mit-Brett’lern auf: „Ham´s Di scho gfragt??? Woaßt Du vielleicht wos g´spuilt wird???“
Eigentlich hatte man sich ja vorgenommen, dieses eine Mal wirklich zu pausieren. Die Doppelbelastung Arbeit und Theater hatte man kaum mehr für tragbar gehalten. Und außerdem wollte man dieses Jahr endlich drei Wochen im September auf Sardinien Mountainbiken gehen. Aber das alles fällt jetzt nicht mehr ins Gewicht. „Naja, a kloane Roll´n geht scho´!“ (Natürlich wäre der Brett’ler tierisch beleidigt wenn die Rolle nicht groß ausfällt…) Und schneller als man denkt ist sie dann da: die erste Leseprobe, wo sich zum ersten Mal alle Mitspieler und die Regie zusammenfinden, um den Text in verteilten Rollen zu lesen. In der Nacht davor hat man in detaillierter Kleinarbeit seine Rolle sowie den dazugehörigen Text gelb angemarkert, um zu prüfen ob man auch tatsächlich eine größere Rolle abbekommen hat. Eifersüchtig reagiert man auf jedes Satzzeichen, das der ein oder andere Mitspieler mehr aufzusagen hat. Dass der Brett’ler das alles auswendig lernen muss, was er da markiert, ist ihm in diesem Augenblick noch gar nicht bewusst. Erst recht nicht, dass das Ganze wieder mit Arbeit, Zeit, Blut und Schweiß verbunden ist! Diese Wahrnehmung ist in der Leseprobe völlig abgeschaltet und man freut sich seines Brett’ler-Daseins.
Dann wird der Probenplan von der Regie verschickt – „Herrgott noch mal, da hat doch mei Großtante zweiten Grades mütterlicherseits ihren 95. Geburstag, da kann ich doch net!“ Sind dann alle Termine in den persönlichen Kalender verwurschtelt, nachdem die Regie die 5. Aktualisierung der Aktualisierung der Aktualisierung in Umlauf gebracht hat, stellt sich der Brett’ler zutiefst getroffen die Frage: „Hab ich denn eigentlich irgendwann auch mal wieder frei?“
Die Doppelbelastung mit Theater und Arbeit nimmt einen immer mehr mit. Der Familie und seinen Freunden gegenüber hat man schon ein schlechtes Gewissen. Die sozialen Kontakte finden förmlich nicht mehr statt. Und je näher der Tag der Premiere rückt, um so spürbarer wird tief unten in der Magengegend des Brett’lers größtes Leiden – das Lampenfieber. Wie eine Art geistiges Sodbrennen überzieht es Magen, Darm und Hirn und steigert sich kontinuierlich bis zu wahrhaft apokalyptischen Ausmaßen in der Minute vor dem ersten Auftritt. Es reicht von einem „Warum tust Du Depp Dir das an?!“ bis zum „Wir werden alle sterben!“
Dies zeigt das große entologische Schisma in des Brett’lers Dasein, den großen Sprung der seine Schüssel wesensmäßig teilt. Einerseits will der Brett’ler nämlich nichts mehr als auf die Bühne. Er ist der Meinung, die Sau zu sein, die die Rampe wirklich braucht. Immer wenn er ein Theater besucht, sieht er sich still in der Rolle des Protagonisten. Beim Schlussapplaus muss er sich zusammenreißen, um nicht aufzustehen und zu winken. Je näher aber sein eigener großer Auftritt kommt – denn auch sein kleinster Auftritt soll ein Großer werden – um so weniger will er spielen. In der letzten Minute vor seinem ersten Vorhang will der Brett’ler sogar nichts in der Welt weniger, als zu spielen. Er will Ärzte finden, die ihm attestieren, dass er viel zu krank ist, um ein Brett’l zu betreten. Er will Spalten im Boden aufgehen lassen, um sich wegzustehlen, atomisieren …
Aber es hilft nichts. Mit einer Mischung aus Delirium, Sarkasmus und Heroismus schmeißt sich der Brett’ler – mit seinem Ruf und Leben abgeschlossen habend – hinter den Vorhang. Jeden Lacher, jede seine Rolle bestätigende Reaktion des Publikums saugt er auf wie ein Verdurstender das Wasser. So fühlt sich der Brett’ler besser und besser – und der Applaus schließlich macht ihn wieder stark. All das steigert sich bis zum Schlussapplaus in einen wahren Rausch. Jetzt glaubt der Brett’ler wieder, – nein, er meint zu wissen – dass er der Größte ist. „Es kann nichts Schöneres geben als Theater zu spielen“, denkt er leise für sich. Fast glaubt der Brett’ler, abzuheben und zu fliegen, wenn die Leute ihm nachher auf die Schulter klopfen und sagen, dass er gut war.
So überdreht der Brett’ler immer mehr, wird selbstbewusst, anmaßend und übermütig. Nichts, gar nichts, kann seine Laune jetzt mehr trüben. Gar nichts? Doch, tief in seinem Herzen spürt der Brett’ler eine Angst aufkeimen. Mit jeder Aufführung wird sie größer. Es ist die Angst vor jenem schwarzen Loch, in das er nach dem letzten Vorhang der letzten Aufführung – der Derniere – fallen wird. Was will der da nur wieder mit sich anfangen?
Der Brett’ler ist eine ganz eigene Spezies.
Natalie Fiedler und Christian Lorenz